Andreas Kossert in seinem Buch

Damals in Ostpreußen

Der Untergang einer deutschen Provinz

Sommer 1944 - lange Zeit schien Ostpreußen im Grauen des Zweiten Weltkriegs eine Insel der Seligen zu sein. Als die Ortsnamen in den Frontnachrichten zunehmend vertrauter klangen und weite Teile Deutschlands wie des übrigen Europa allmählich in Schutt und Asche versanken, suchten Ausgebombte aus Berlin, Hamburg und dem Ruhrgebiet in Ostpreußen Zuflucht. Hier, in der ländlichen Abgeschiedenheit des Ostens, weitab von der tödlichen Bedrohung aus der Luft, schienen sie sicher. Doch die Ruhe war trügerisch. Das Jahr 1944 brachte den Krieg auch nach Ostpreußen. Je lauter die nationalsozialistische Propaganda den »Endsieg« ankündigte, desto deutlicher war der Geschützdonner zu vernehmen. Hans Graf Lehndorff hielt die besondere Stimmung des Sommers 1944fest:

Die Vorboten der Katastrophe machten sich bereits in den letzten Junitagen(..) bemerkbar - leichte, kaum ins Bewusstsein dringende Stösse, die das sonnendurchglühte Land wie von fernem Erdbeben erzittern ließen. Und dann waren die Strassen auf einmal überfüllt mit Flüchtlingen aus Litauen, und herrenloses Vieh streifte quer durch die erntereifen Felder, dem gleichen unwiderstehlichen Drang nach Westen folgend. Noch war es schwer zu begreifen, was da geschah, und niemand durfte es wagen, seinen geheimen Befürchtungen offen Ausdruck zu geben. Aber als der Sommer ging und die Störche zum Abflug rüsteten, ließ sich das bessere Wissen von dem, was bevorstand, nicht länger verborgen halten. Überall in den Dörfern sah man Menschen stehen und zum Himmel starren, wo die großen vertrauten Vögel ihre Kreise zogen, so als sollte es diesmal der letzte Abschied sein. Und jeder mochte bei ihrem Anblick etwa das gleiche empfinden: »Ja, ihr fliegt nun fort! Und wir? Was soll aus uns und unserem Land werden?«

Ostpreußen war die erste Provinz, in die feindliche Truppen eindrangen. Dem Schrecken, den Deutschland über ganz Europa gebracht hatte, folgte nun die Rache, und die traf Ostpreußen besonders hart. Mit dem Untergang und dem endgültigen Verlust der Provinz ging etwas Einzigartiges unwiederbringlich verloren. Ostpreußen, das für Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang verschwand, sollte nach 1945 für die Deutschen zu einem verwunschenen Sehnsuchtsland werden, dessen Hymne - das Ostpreußenlied oft voller Wehmut erklang:

Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen,

über weite Felder lichte Wunder gehn.

Starke Bauern schreiten hinter Pferd und Pflug,

über Ackerbreiten streicht der Vogelzug.

Und die Meere rauschen den Choral der Zeit,

Elche steht und lauschen in die Ewigkeit.

Tag ist aufgegangen über Haff und Moor,

Licht hat angefangen, steigt im Ost empor.

Ostpreußen ist für Millionen Deutsche Heimat oder Land ihrer Vorfahren, für andere eine unvergleichlich schöne Landschaft mit einer einzigartigen Natur. Das versunkene Sehnsuchtsland übt eine große Faszination aus, kaum jemand vermag sich seiner Magie zu entziehen. Ausdruck dafür ist nicht zuletzt das enorme mediale Interesse. Seit der politischen Wende in Ostmitteleuropa hat es Filme und Dokumentationen zuhauf gegeben, die alle eines gemeinsam haben: Sie beeindrucken durch stille, unaufgeregte Sequenzen und sind untermalt von ruhiger Musik. Es scheint, als werde hier ein Nerv getroffen, als wecke die Landschaft Ostpreußen mit ihrem hohen Wolkenhimmel, den endlosen schattenspendenden Alleen, den hügeligen Feldern, Masurens Seen und der Küste der Kurischen Nehrung eine Sehnsucht in uns. In unserer als hektisch empfundenen Welt strahlt Ostpreußen nostalgische Naturromantik aus. Gerade um die Weihnachtszeit häufen sich in den öffentlich-rechtlichen Sendern die Beiträge, die sich mit Ostpreußen beschäftigen: »Weihnachten in Ostpreußen«, »Winter in Masuren«, »Reise durch Ostpreußen«. Ein Blick in die deutschen Buchhandlungen bestätigt, daß Bücher von Marion Gräfin Dönhoff, Klaus Bednarz, Arno Surminski, Siegfried Lenz, Hans Hellmut Kirst und Hans Graf Lehndorff sich großer Nachfrage erfreuen. Aber auch Nicht-Ostpreußen zieht das Land an. Der weitgereiste Journalist Ralph Giordano ist einer von ihnen:

"Ich steh hier am Ufer und gebe mir Mühe, meine Bewegung zu verbergen. Der strenge Sarkasmus gegenüber der eigenen Person, die bewährte Selbstironie, die eingefleischte Abneigung gegen jede Form von Sentimentalität, sie sehen sich weit abgeschlagen, alle drei irgendwo untergegangen in der glitzernden Fläche bis zur anderen Seeseite - ich bin da. Ich bin da, wohin ich schon als Knabe wollte, aber siebzig werden musste, um den frühen Wunsch endlich erfüllt zu bekommen- ich bin in Ostpreussen!“

Mit Ostpreußen verbinden wir Königsberger Klopse, Ännchen von Tharau, Bernstein, die Kurische Nehrung, Störche, den Himmel über Masuren, Kant, »So zärtlich war Suleyken«, das Führerhauptquartier »Wolfsschanze«, Tannenberg, weite Landschaften, in denen Elche umherstreifen, gigantische Forsten, Menschen mit merkwürdig anmutenden Namen und Dialekten sowie Tausende von verwunschenen Seen.

Die mehr als 3000 Seen Ostpreußens liegen in den Senken des Preußischen Landrückens, der den Süden Ostpreußens von Westen und Südwesten nach Osten und vom Oberland nach Masuren durchzieht. Die größten und bekanntesten sind der Spirding-, der Löwentin- und der Mauersee. In einem alten Ostpreußenlied heißt es: »Du trägst nicht stolze Bergeshöhn«, doch die Ostpreußen waren stolz, daß ihre Kernsdorfer Höhen im Oberland es immerhin auf 313 Meter brachten. Die Landschaften haben klangvolle alte Namen wie Ermland, Natangen, Nadrauen, Masuren und Samland. Die Flüsse - neben dem Pregel insbesondere die schiffbare Memel - stellen die Verbindung her bis weit nach Litauen und Rußland hinein. Hinter der alten ostpreußisch-litauischen Grenze wurde die Memel zum Njemen, einem Strom, an dem viele Völker und ethnische Gruppen zu Hause waren.

Ostpreußen, im äußersten Osten Deutschlands gelegen, unterhielt gute und fruchtbare Kontakte zu den Nachbarn außerhalb des Reiches. Jahrhundertelang war das Land kulturelle Schnittstelle zu den litauisch-baltischen, polnischen und russischen Regionen, auf der anderen Seite war es wie keine andere Provinz des deutschen Sprachraums geprägt durch die ethnischen Eigenarten seiner Bewohner.

Der Aufstieg des Nationalismus bedeutete das Ende dieser exotischen Welt. Die unverwechselbaren Ortsnamen verschwanden, denn sie galten als unzeitgemäß. Manche historisch gewachsenen Ortsnamen hatten schon dem germanisierenden Zeitgeist weichen müssen, aber den Höhepunkt erreichten die wahnwitzigen Umtaufaktionen im Nationalsozialismus, als sämtliche Ortsnamen mit litauischen und masurisch-polnischen Ursprüngen ausgelöscht wurden. In manchen Landkreisen wurden mehr als siebzig Prozent aller Dörfer willkürlich umbenannt. Siegfried Lenz nannte das in dem Roman »Heimatmuseum« die »Taufkrankheit«. Sie hat dieser seit alters her multiethnischen Kulturlandschaft die Seele genommen.

Ostpreußen ist für viele Deutsche immer noch Heimat - verlorene Heimat. Der Verlust verursacht auch nach mehr als einem halben Jahrhundert Schmerz und Trauer. Man muß erzählen von Flucht und Vertreibung, vom Untergang des alten Ostpreußen, wenn man dieses Leid bewältigen will. Ostpreußen hat von allen deutschen Ländern den größten Verlust an Menschenleben erlitten. Von seinen fast 2.490.000 Einwohnern überlebte gut ein Fünftel - davon mehr als die Hälfte Zivilisten - Kampf, Flucht, Verschleppung, Lagerinternierung, Hunger und Kälte nicht. Das Land versank in dem Krieg, der von Deutschland ausging und Terror und Verbrechen über ganz Europa brachte.

Siebenhundert Jahre deutscher Geschichte in Ostpreußen sind unter den Trümmern des »Dritten Reiches« verschüttet. Die Menschen aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern haben über die Kriegsverluste und Bombardierungen hinaus, die sie mit allen Deutschen teilten, mit dem Verlust von Haus und Hof und allen sozialen Bindungen für den von Deutschland ausgehenden Krieg bezahlt. Derartig tiefgreifende Lebenseinschnitte blieben den Bewohnern von Hochschwarzwald, Bayerischem Wald und Lüneburger Heide erspart, doch viele dieser Glücklicheren haben weggesehen, als die Heimatlosen kamen, ja, sie haben sie sogar wie Aussätzige behandelt und beschimpft. Die nach der Flucht in den vier alliierten Besatzungszonen Gestrandeten waren zwar gerettet, aber bei ihren Landsleuten nicht wohlgelitten.

Ohne Zweifel war die materielle Integration durch den Lastenausgleich eine große Leistung, aber es blieb ein weites Feld unbestellt: Der seelische Schmerz wurde verdrängt. Lange Zeit verweigerten sich gerade die Intellektuellen diesem Teil der eigenen Geschichte und überließen die Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung der politischen Rechten. Deutsche Opfer waren nicht opportun. Das starre Klischee von »den« Vertriebenen saß tief in den Köpfen. Günter Grass hat dazu durchaus selbstkritisch in seinem Roman »Im Krebsgang« angemerkt: »Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht.« Wer sich dieser Haltung nicht anschloß, wer hören wollte, machte die Erfahrung, daß das Fragen einem politischen Drahtseilakt glich. Grass hat das nachträglich bedauert: »Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos.« Genau diese »Schuld« hat dazu beigetragen, daß es an Verständnis für das Leid der Vertriebenen fehlte. Diese Ausblendung führte schließlich zur Arroganz gegenüber dem Leid der Menschen, die ihre Heimat verlassen mußten. Verlust, Trauer und Schmerz prägten und prägen bis heute ihr Leben.

Mit dem Verlust Ostpreußens und anderer Teile Deutschlands haben nicht nur die Menschen, die von dort stammen, sondern alle Deutschen viel verloren. Deutschland verfügt nicht mehr über diese Brückenbauer, die seit Jahrhunderten mit den östlichen Nachbarn vertraut waren. Doch ganz gleichgültig, ob wir den Verlust empfinden oder nicht: Ostpreußen bleibt eine der großen Stätten deutscher und europäischer Geistesgeschichte. Herzog Albrecht, Simon Dach, Johann Gottfried Herder, E.T.A. Hoffmann, Käthe Kollwitz, Lovis Corinth, Hermann Sudermann, Ernst Wiechert, Hannah Arendt, Erich Mendelsohn, Johannes Bobrowski, Siegfried Lenz und Lea Rabin, sie alle werden immer Teil des Kulturerbes bleiben, das Ostpreußen uns allen vermacht hat. Hannah Arendt hat lange nach Krieg und Emigration ausgedrückt, was das bedeutet: »In meiner Art zu denken und zu urteilen komme ich immer noch aus Königsberg.«

Ostpreußen hat mit dem Exodus der Deutschen aber nicht aufgehört zu existieren, auch wenn eine im eigenen rückwärtsgewandten Geschichtsbild erstarrte Position das vorgaukeln mag, weil sie das Neue, das sich Verändernde, die dynamische und zuweilen schmerzhafte kulturelle Aneignung Ostpreußens durch seine jetzigen Bewohner nicht wahrnimmt. Wenn sich deutsche Kinder und Enkelkinder aufmachen, die Geburtsorte ihrer Eltern und Großeltern und damit die Wurzeln ihrer Familien kennenzulernen, kehren mit diesen Familiengeschichten längst vergessen geglaubte Landschaften ins Gedächtnis zurück. Ostpreußen - das versunkene Land zwischen Weichsel und Memel - lädt zu einer Wiederentdeckung seiner reichen Geschichte und Kultur und dem unvergänglichen Zauber seiner Landschaft ein.

"Reise nach Ostpreußen"
zitiert aus:
Andreas Kossert: Damals in Ostpreußen / Der Untergang einer deutschen Provinz. München 12010, Seite 9-17

eISBN 978-3-641-04701-6

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